Spitzenwindböen im Flachland von 134 km/h - Orkantief XYNTHIA verabschiedet stürmisch den meteorologischen Winter

Im Winter 2009/2010 wurde Deutschland zwar von einigen Sturmtiefs beeinflusst, größere Sturmereignisse im Flachland blieben jedoch zunächst aus. Grund hierfür war die großräumige Druckverteilung über Europa mit hohem Luftdruck über dem Nordosten des Kontinents. Dieser verhinderte, dass mit lebhafter westlicher Strömung kräftige und intensive Tiefdruckgebiete nach Deutschland ziehen konnten. Am letzten Tag des meteorologischen Winters, dem 28.02.2010, sollte vor allem die Westhälfte Deutschlands einen ausgeprägten Sturm erleben. Das Besondere war, dass der Sturm nicht mit einer sonst üblichen strammen Westströmung nach Mitteleuropa gelangte sondern von Südwesten her nach Deutschland zog.

 

Zugbahn des Orkantiefs XYNTHIA

Abb. 1: Zugbahn des Orkantiefs XYNTHIA

 

XYNTHIA entstand bereits am Donnerstag, den 25.02.2010 als schwache Wellenstörung im Seegebiet südlich der Azoren. Am folgenden Tag befand sich das Tief wenig nördlich der Kanaren, bevor es am Samstag unter deutlicher Vertiefung zu einem Orkantief in Richtung Nordwestspanien und Biskaya vorankam. Im Laufe des Sonntags, den 28.02.2010 zog das Orkantief XYNTHIA unter langsamer Abschwächung von der Biskaya weiter über den Nordwesten und Norden Frankreichs, den Westen Belgiens, die Niederlande und den Norden Niedersachsens nach Schleswig-Holstein und erreichte in der Nacht zum Montag bereits die Ostsee.

Zugbahn des Orkantiefs XYNTHIA

Abb. 2: Zugbahn des Orkantiefs XYNTHIA und einige Spitzenböen

 

Ihren Entwicklungshöhepunkt erreichte XYNTHIA am Sonntag, den 28.02.2010. Der niedrigste Kerndruck des Tiefs wurde am Samstagabend, den 27.02.2010 um 19 Uhr MEZ und in der Nacht zum Sonntag, den 28.02.2010 um 1 Uhr MEZ mit jeweils 967 hPa über der Biskaya festgestellt. Entscheidend ist jedoch nicht der Kerndruck als solcher, sondern die Drängung hin zu höherem Luftdruck in der Umgebung. Diese Drängung war enorm, sodass sich am Südrand des Orkantiefs ein flächenmäßig kleines, aber signifikantes Orkanfeld ausbilden konnte.

 

Luftmassengegensätze bei Orkantief XYNTHIA

Abb. 3: Luftmassengegensätze bei Orkantief XYNTHIA

 

Der Grund für die rasante Verstärkung dieses Tiefs liegt in der Luftmassenverteilung, wie die vorangehende Abbildung verdeutlichen soll: An der Vorderseite des Tiefs wurde in breitem Strom sowie in allen Höhenlagen sehr milde subtropische Luft nach Norden und Nordosten geführt, während an der Rückseite des Tiefs polare Kaltluft in breitem Strom gen Süden und Südosten gelenkt wurde. Durch diese enormen Temperaturgegensätze auf engem Raum konnte sich das Tief erst zu einem Orkantief entwickeln.

 

Animation der Böen-Prognosen des ECMWF-Modells für Mitteleuropa

Abb. 4: Animation der Böen-Prognosen des ECMWF-Modells für Mitteleuropa in km/h

 

Das ausgeprägte Sturmfeld an der Süd- und Südostseite des Tiefs sorgte in einem Streifen von Nordwestspanien über Frankreich bis in den Westen Deutschlands für Orkanböen und erhebliche Sach- und auch Personenschäden. Am Vormittag des 28.02.2010 erfasste das Sturmfeld des Orkantiefs XYNTHIA den Südwesten und Westen Deutschlands.

 

Animation des Höhenwindes (1,5 km Höhe in Knoten)

Abb. 5: Animation des Höhenwindes (1,5 km Höhe in Knoten)

 

Bereits in den Morgenstunden des 28.02.2010 wurden von den Hochlagen des Schwarzwalds Orkanböen bis 130 km/h gemeldet. Zwischen 10 und 11 Uhr MEZ gab es auch im Flachland erste Böen der Windstärke 12. Im Laufe des Sonntags weitete sich das Sturmfeld nach Nordosten aus. Besonders betroffen waren das Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen und Teile der Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen.

Da das Tief von Südwesten her nach Deutschland zog, hatte es weder im Bereich der Kaltfront noch im Bereich der Okklusion in höheren Luftschichten der Troposphäre nennenswerte Kaltluft im Gepäck. Folglich war die Luftschichtung im Bereich der Frontalzone tendenziell eher stabil und die Niederschläge mehrheitlich dynamisch ausgeprägt. Demzufolge führte vor allem die tageszeitlich bedingte Labilisierung der Luftschichten durch die Sonneneinwirkung und der daraus resultierenden vertikalen Durchmischung der Luft dazu bei, dass Orkanböen bis ins Flachland aufgetreten sind. Der Höhenwind in Abb. 4 zeigt, dass die mittleren Windgeschwindigkeiten im 850 hPa-Niveau (in etwa 1,5 Kilometern Höhe) im Westen unseres Landes bis zu 85 Knoten oder darüber (rund 157 km/h und mehr) betrugen. Wäre entsprechend Höhenkaltluft, Labilität o.ä. vorhanden gewesen, hätte der Höhenwind insbesondere bei konvektiven Umlagerungen wie Schauern und Gewittern 1:1 bis zum Boden heruntergemischt werden können.


Spitzenwindböen vom 28.02.2010 im Bergland ab 118 km/h (Orkanböen)

  • 181 km/h - Brocken (1142 m, Sachsen Anhalt)
  • 164 km/h - Weinbiet (553 m, Rheinland-Pfalz)
  • 151 km/h - Zugspitze (2960 m, Bayern)
  • 141 km/h - Schmücke (937 m, Thüringen)
  • 140 km/h - Wasserkuppe (921 m, Hessen)
  • 138 km/h - Feldberg/Schwarzwald (1490 m, Baden-Württemberg)
  • 136 km/h - Kalterherberg (542 m, Nordrhein-Westfalen)
  • 130 km/h - Belchen/Schwarzwald (1370 m, Baden-Württemberg)
  • 126 km/h - Kahler Asten (839 m, Nordrhein-Westfalen)
  • 126 km/h - Stötten (734 m, Baden-Württemberg)
  • 125 km/h - Hohentwiel (686 m, Baden-Württemberg)
  • 125 km/h - Lautertal-Hörgenau (522 m, Hessen)
  • 124 km/h - Fichtelberg (1213 m, Sachsen)
  • 123 km/h - Hoherodskopf/Vogelsberg (743 m, Hessen)
  • 122 km/h - Hahn/Hunsrück (501 m, Rheinland-Pfalz)
  • 122 km/h - Hornisgrinde (1119 m, Baden-Württemberg)
  • 120 km/h - Bühlerhöhe (770 m, Baden-Württemberg)
  • 119 km/h - Masserberg (790 m, Thüringen)
  • 118 km/h - Freisener Höhe (603 m, Saarland)


Spitzenwindböen von 28.02.2010 im Flachland ab 118 km/h (Orkanböen)

  • 134 km/h - Berus (363 m, Saarland)
  • 133 km/h - Doerrmoschel-Felsbergerhof (442 m, Rheinland-Pfalz)
  • 131 km/h - Eschweiler (155 m, Nordrhein-Westfalen)
  • 127 km/h - Trier (265 m (Petrisberg), Rheinland-Pfalz)
  • 127 km/h - Daun (474 m, Rheinland-Pfalz)
  • 126 km/h - Idar-Oberstein (376 m, Rheinland-Pfalz)
  • 125 km/h - Karlsruhe (116 m, Baden-Württemberg)
  • 125 km/h - Germersheim (115 m, Rheinland-Pfalz)
  • 123 km/h - Siegen (307 m, Nordrhein-Westfalen)
  • 121 km/h - Völklingen (224 m, Saarland)
  • 121 km/h - Aachen (202 m, Nordrhein-Westfalen)
  • 120 km/h - Kirchheimbolanden (235 m, Rheinland-Pfalz)
  • 120 km/h - Stromberg (351 m, Rheinland-Pfalz)
  • 119 km/h - March/Breisgau (220 m, Baden-Württemberg)
  • 119 km/h - Büchel (477 m, Rheinland-Pfalz)
  • 118 km/h - Alsfeld (305 m, Hessen)
  • 118 km/h - Tholey (396 m, Saarland)
  • 118 km/h - Bietzen (327 m, Saarland)

 

Auswahl 24stündige Spitzenböen Deutschland vom 28.02.2010
Abb. 6: Auswahl 24stündige Spitzenböen (28.02.2010, 7 MEZ bis 01.03.2010, 7 MEZ)


Schadensbilanz
Orkantief XYNTHIA hat Schäden in dreistelliger Millionenhöhe hinterlassen. Mehrere Menschen kamen ums Leben, so wurde in Landau (Pfalz) eine 30jährige Frau von einem Eisentor erschlagen. In Rheinland-Pfalz gab es 16 Verletzte. Von Stromausfällen waren rund 280.000 Einwohner im Bundesland betroffen. Insgesamt stehen nach XYNTHIA in der Rheinland-Pfälzischen Polizeibilanz: 2.220 umgestürzte Bäume, 461 beschädigte Häuser, 383 beschädigte Autos, 455 Straßensperrungen und 119 Verkehrsunfälle, berichtet die Nachrichtenagentur dpa. Nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) beliefen sich die versicherten Schäden in ganz Deutschland auf etwa eine halbe Milliarde Euro. Demnach wurden insgesamt rund eine halbe Million Gebäude und etwa 40.000 Autos beschädigt. Bezogen auf die Schadenbilanz ist XYNTHIA damit vergleichbar mit Orkantief EMMA, das Deutschland am 01.03.2008 überquert hatte.

Die Feuerwehr Baden-Baden musste in ihrer Umgebung den Ausnahmezustand ausrufen. Die Feuerwehr Trier-Saarburg berichtete den Meteorologen der MeteoGroup Unwetterzentrale von zahllosen blockierten Straßen, von zerstörten Stromleitungen sowie Stromabschaltungen seitens des örtlichen Energieversorgers. "Chaos - wir wissen nicht, wo wir anfangen sollen", hieß es am Sonntagnachmittag, seitens der Feuerwehr. In Trier war die Rufnummer 112 derart überlastet, dass eine zweite Notrufnummer eingerichtet werden musste, berichtete der Radiosender SWR3.

Doch nicht nur hierzulande kam es zu Schäden. Besonders Frankreich wurde schwer getroffen. Paris rief den nationalen Notstand aus und noch am 01.03.2010 hatte die französische Regierung die am stärksten vom Unwetter betroffenen Regionen zu Katastrophengebieten erklärt. An der Atlantikküste werden acht Menschen vermisst. Mindestens 52 Menschen kamen in Frankreich durch den Orkan ums Leben..


Vorhersagbarkeit des Ereignisses
Bereits fünf bis sechs Tage vor Ereignisbeginn deuteten die ersten Prognosemodelle auf ein markantes Sturmtief am 28.02.2010 bzw. vom 28.02. auf den 01.03.2010 hin. Zwei Tage vorher kristallisierte sich allmählich die genaue Zugbahn und Entwicklung des Tiefs heraus. Zuvor lagen in den verschiedenen Prognosemodellen noch enorme Schwankungen hinsichtlich Stärke und Verlagerung vor.

Rechtzeitig jedoch wurde beispielsweise in der Nacht zum Samstag um 01:31 Uhr MEZ in Trier eine Vorwarnung der Warnstufe ROT vor Orkanböen um 120 km/h und darüber ausgegeben - ziemlich genau 30 Stunden bevor in Trier die erste schwere Sturmbö von 91 km/h gemessen wurde. Am Samstag, den 27.02.2010 um 18:31 Uhr MEZ wurde die entsprechende Akutwarnung der Warnstufe ROT ausgegeben: 13 Stunden vor dem eigentlichen Ereignisbeginn. Trier sei an dieser Stelle exemplarisch für alle am schlimmsten betroffenen Regionen zwischen dem Hohen Venn und dem Schwarzwald genannt. Aber auch im übrigen Deutschland erfolgen die notwendigen Vor- und Akutwarnungen in einem vergleichbar frühen Zeitfenster vor Ereignisbeginn. Etwa drei bis sechs Stunden vor Ereignisbeginn wurden die Akutwarnungen in Hessen und Thüringen von Warnstufe ORANGE auf die Warnstufe ROT angehoben.

Das Ereignis und dessen Ausmaß waren für die MeteoGroup-Meteorologen frühzeitig erkennbar und damit vorhersagbar.


Vergleich XYNTHIA mit namhaften Orkanen wie LOTHAR, JEANETT, KYRILL und EMMA

Während bei den Orkantiefs KYRILL (18./19.01.2007) und EMMA (29.02./01.03.2008) das Orkanfeld derart groß war, dass es weite Teile Deutschlands erfassen konnte, beschränkte sich das markanteste Windfeld bei XYNTHIA lediglich auf wenige 100 Kilometer Breite. Dabei lag der Wirkschwerpunkt des Tiefs, wenn wir vom Flachland ausgehen, etwa auf einer Linie Hohes Venn - Rureifel - Siegerland - Haardt - Hohenloher Ebene - Oberrhein sowie westlich davon.

Die nachfolgenden Tabellen zeigen die Spitzenböen an ausgewählten Messstationen für jedes Ereignis. Ein rot markierter Messwert zeigt an, dass dies der schwerste Sturm der vergangenen zehn Jahre an der Station war.

Rheinland Pfalz
Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane
Tab. 1: Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane

In weiten Landesteilen war XYNTHIA das flächendeckend stärkste Ereignis seit mindestens 10 Jahren. KYRILL war vor allem im Norden und Nordosten des Landes stärker als XYNTHIA. Orkantief EMMA fiel im Wesentlichen nicht extrem ins Gewicht. Lediglich Weihnachtsorkan LOTHAR, welcher am 26.12.1999 vor allem über den Süden des Landes hinweg gefegt ist, schlägt bisher mit noch heftigeren Windböen zu Buche. In Trier dagegen war XYNTHIA das stärkste Ereignis seit mehr als 10 Jahren.


Saarland
Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane
Tab. 2: Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane

Auch im Saarland war XYNTHIA im Vergleich zu KYRILL und EMMA in weiten Landesteilen das flächendeckend stärkste Ereignis seit mindestens 10 Jahren. Orkantief LOTHAR toppt dagegen vor allem im Osten des Saarlands die bisher gemessenen Extrema. Für den Westen des Saarlandes war dagegen XYNTHIA stärker als LOTHAR.


Nordrhein-Westfalen
Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane
Tab. 3: Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane

Im großen Teil des Landes war KYRILL im Vergleich zu EMMA und XYNTHIA flächendeckend das stärkste Ereignis seit mindestens 10 Jahren. Die konvektiven Umlagerungen (Kaltfront - Gewitterlinie) bei EMMA führten dagegen lediglich stellenweise zu stärkeren Böen als bei KYRILL, vor allem in der Mitte und im Osten des Bundeslandes. XYNTHIA spiegelt dagegen vor allem in Richtung Hohes Venn und Eifel das zweitstärkste Ereignis seit mindestens 10 Jahren wider. Lediglich JEANETT war beispielsweise im Raum Eifel noch stärker als XYNTHIA.


Hessen
Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane
Tab. 4: Vergleich Spitzenböen der letzten namhaften Orkane

Insbesondere in der Nordhälfte des Landes war KYRILL verbreitet das stärkste Sturmereignis seit mindestens 10 Jahren. XYNTHIA war dagegen vor allem im Süden und im Nordosten das seit vielen Jahren stärkste Ereignis.


Baden-Württemberg
Orkantief LOTHAR bleibt unangefochten das schwerste Sturmereignis in diesem Bundesland. Spitzenreiter ist der Hohentwiel mit 272 km/h, bei den anderen namhaften Orkanen wurden auf dem erloschenen Vulkan lediglich zwischen 124 und 130 km/h gemessen. In Karlsruhe wurden bei LOTHAR 180 km/h gemessen, bei den anderen Orkanen lagen die Spitzenböen lediglich zwischen 96 und 126 km/h.

 

Diese Zusammenstellung wurde von Fabian Ruhnau, Thomas Sävert und Stefan Laps, Meteorologen der MeteoGroup Unwetterzentrale, im März 2010 erstellt.

ANZEIGE