Orkantief ANNE mit Gewitterfront

Das Wetterjahr 2014 begann in einigen Teilen Deutschlands sehr turbulent und mit fast sommerlichen Gewittern, wie sie im Winter nur selten beobachtet werden. Am Abend des 3. Januar 2014 (Freitag) überquerte eine ausgeprägte Gewitterfront die Beneluxstaaten und in Deutschland besonders Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Dabei traten erhebliche Schäden auf, es gab eine Tote und mehrere Verletzte.


Wetterlage und Entstehung

Bereits seit Mitte Dezember 2013 entstanden auf dem Nordatlantik im Grenzbereich zwischen kanadischer Kaltluft und subtropischer Warmluft immer wieder kräftige Tiefdruckwirbel, von denen mehrere einen Kerndruck von weniger als 950 Hektopascal erreichten. Am 24. Dezember sank der Luftdruck im Zentrum des Orkantiefs DIRK nordwestlich von Schottland sogar bis etwa 925 Hektopascal ab.

Animation der MetOffice-Bodendruck-Analysekarten
Abb. 1: Animation der MetOffice-Bodendruck-Analysekarten mit den eingetragenen Namen der Tiefs (Vergabe im Rahmen der Wetterpatenschaft der Freien Universität zu Berlin) vom 15. Dezember 2013, 1 Uhr bis 4. Januar 2014, 1 Uhr MEZ (12stündige Zeitschritte)

Auf der Vorderseite dieser Sturm- und Orkantiefs wurde mit südwestlicher Strömung wiederholt sehr milde Luft nach Mitteleuropa transportiert. An dieser Konstellation änderte sich auch Anfang Januar 2014 nichts. Orkantief ANNE zog mit einem Kerndruck von 947 Hektopascal vom Nordatlantik kommend knapp nördlich an Irland vorbei zum Seegebiet zwischen Island und Schottland. Das zugehörige Sturmfeld erfasste vor allem Irland und Großbritannien. An der deutschen Nordseeküste und im Bergland gab es Sturmböen.


Bildung der Gewitterfront

Bodenanalyse
Abb. 2: DWD-Bodenanalyse von Freitag, 3. Januar 2014, 16 Uhr MEZ

Die Okklusion (Mischfront) des Orkantiefs überquerte tagsüber am Freitag, den 3. Januar 2014 große Teile Deutschlands von West nach Ost. Dahinter blieb die südwestliche Strömung zunächst erhalten und bodennah wurde weiterhin sehr milde und auch feuchte Luft herangeführt.

Animation Temperatur
Abb. 3: Animation der Temperatur im 500 hPa-Niveau von Freitag, 3. Januar 2014, 10 Uhr bis Samstag, 4. Januar 2014, 4 Uhr MEZ in 3stündigen Zeitschritten

Der Front folgte am Abend ein so genannter Höhentrog (tiefer Luftdruck in der Höhe; in Abb. 2 rot hervorgehoben), angefüllt mit sehr kalter Luft in höheren Luftschichten. So sanken die Temperaturen über Benelux und dem Nordwesten Deutschlands am Freitagabend in rund 5.400 Metern Höhe auf Werte um -30 Grad. Dadurch wurde die Luftschichtung sehr labil und zunächst bildeten sich im Bereich des Ärmelkanals und an der belgischen Küste erste Schauer und Gewitter.

Animation Mittelwind
Abb. 4: Animation des Mittelwindes in Knoten im 850 hPa-Niveau von Freitag, 3. Januar 2014, 10 Uhr bis Samstag, 4. Januar 2014, 4 Uhr MEZ in 3stündigen Zeitschritten

In höheren Luftschichten der Troposphäre herrschten am Freitagnachmittag und am Abend recht hohe Windgeschwindigkeiten. In rund 1.400 Metern Höhe wehte der Wind im Bereich vom Ärmelkanal und Nordfrankreich über Benelux bis in den Nordwesten Deutschlands gebietsweise mit 60 Knoten, das entspricht etwa 110 km/h aus etwa 230 Grad, also Südwest. Gleichzeitig war der Bodenwind deutlich schwächer und kam aus etwa 200 Grad, also Südsüdwest. Der Wind nahm also mit der Höhe drastisch zu und änderte dabei leicht seine Richtung. Man nennt dieses Phänomen Windscherung, in diesem Fall vertikale Windscherung, also die Änderung des Windes mit der Höhe.

Animation Windscherung
Abb. 5: Animation der Windscherung in den unteren 2 Kilometern der Troposphäre und Labilität im 850 hPa-Niveau von Freitag, 3. Januar 2014, 10 Uhr bis Samstag, 4. Januar 2014, 4 Uhr MEZ in 3stündigen Zeitschritten

Die Scherungskarten für die unterste Schicht der Troposphäre zeigen im Bereich der heranrückenden Höhenkaltluft extreme Werte, die fast bis an den Anschlag der Skala reichen. Bilden sich nun Schauer und Gewitter bei starker Labilität und starker Scherung aus, dann können sie sich entlang einer Linie anordnen. Man nennt eine solche Linie dann auch „Squall line“, also Böenlinie, oder auch einfach Gewitterfront. Ohne Scherung wird die nach oben steigende Luft nicht abgeführt und ein Schauer/Gewitter fällt rasch wieder in sich zusammen. Mit starker Scherung können sich die Gewitter immer wieder neu bilden bzw. anbauen.

Animation Niederschlagsradarbilder
Abb. 6: Animation Niederschlagsradarbilder von Freitag, 3. Januar 2014, 15 Uhr bis Samstag, 4. Januar 2014, 0:30 Uhr MEZ in 15minütigen Zeitschritten

Die Gewitterlinie entstand am späten Freitagnachmittag an der belgischen Küste und zog von dort aus mit der starken Höhenströmung sehr rasch nach Osten bis Nordosten. Um 16 Uhr MEZ lag sie noch über dem Westen Belgiens, um 18 Uhr reichte sie von der Mitte der Niederlande bis nach Südbelgien und stand schon kurz vor der Grenze zu Deutschland.

Hochaufgelöstes Niederschlagsradarbild
Abb. 7: Hochaufgelöstes Niederschlagsradarbild von Freitag, 3. Januar 2014, 19:15 Uhr

Gegen 19 Uhr zeigen die Radarbilder eine fast durchgehende Gewitterfront von Ostfriesland bis zur Eifel. Im Laufe des Abends überquerte die Front das südliche Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Nordhessen, bevor sie sich auf dem weiteren Weg nach Osten abschwächte. In die Gewitterfront eingelagert waren so genannte Mesozyklonen, das sind quasi kleine Tiefdruckgebiete, starke und durch die enorme Scherung oft rotierende Gewitterzellen. Diese eingelagerten Zellen verursachten auch die größten Schäden.

Animation Blitze
Abb. 8: Animation der Blitze von Freitag, 3. Januar 2014, 15 Uhr bis Samstag, 4. Januar 2014, 1 Uhr MESZ

Die Gewitter an der Front waren für die Jahreszeit sehr blitzintensiv. Beim Aufzug der Gewitterlinie konnte man zeitweise bis zu 30 Blitze pro Minute beobachten. Der Front folgten noch einzelne Schauer nach, die lokal auch mit Blitz und Donner verbunden waren. Im Bereich eines solchen Schauers bildete sich am späten Abend über Nordhessen ein mutmaßlicher Tornado.


Messwerte

Animation Böen
Abb. 9: Animation der 6stündigen Spitzenwindböen > 50 km/h von Freitag, 3. Januar 2014, 7 Uhr bis Samstag, 4. Januar 7 Uhr MEZ

Bereits am Freitagnachmittag gab es in Nordfrankreich und an der belgischen Küste erste schwere Sturmböen und einzelne orkanartige Böen. So meldete die Wetterstation in Abbeville (Frankreich) um 15 Uhr MEZ eine Spitzenböe von 113 km/h. Bis 18 Uhr wurden von den Niederlanden bis nach Nordfrankreich verbreitet Sturmböen der Stärke 9 Bft. und gebietsweise auch schwere Sturmböen der Stärke 10 gemessen.

Als die Gewitterfront Deutschland erreichte, verstärkte sie sich noch und zwischen 18:30 und 18:40 Uhr MEZ registrierte unsere Station in Issum (Kreis Kleve, NRW) eine Orkanböe von 119 km/h. Hier gab es auch die ersten größeren Schäden, einige Bäume stürzten um. Im weiteren Verlauf des Abends meldete Arnsberg im Sauerland 115 km/h und Bremerhaven sogar eine Spitzenböe von 128 km/h. Allerdings treten erfahrungsgemäß die stärksten Böen in solchen Gewitterfronten sehr eng begrenzt auf und fallen durch die Maschen des schon sehr engen Stationsmessnetzes.

Zwei weitere Faktoren machten diesen Trog zum einen besonders und zum anderen gefährlich: Er stieß auf sehr milde Meeresluft, die abends gegen 18 / 19 Uhr immer noch rund 12 Grad betrug. Mit der Gewitterlinie sank die Temperatur rasch auf nur noch 4 bis 7 Grad. Des Weiteren verlagerte er sich sehr schnell, wodurch es zu einem raschen Druckanstieg hinter der Gewitterlinie kam, was ebenfalls den kräftigen Wind begünstigte.

Der große Temperaturunterschied zwischen Boden (rund 12 Grad) und der Höhe (-30 bis -32 Grad in rund 5.400 Metern Höhe) und die vormals genannten Faktoren reichten aus, um selbst im Winter größere Mengen an Energie freizusetzen. Innerhalb der Gewitter gab es zudem häufig Graupel und kleinen Hagel.


Vorhersage

UWZ-Warnkarte
Abb. 10: UWZ-Warnkarte von Freitag, 3. Januar 2014 – zeigt alle Warnungen, die an dem Tag gültig waren.

Die Bildung des Orkantiefs selbst hatten die Modelle der verschiedenen Wetterdienste sehr gut in Griff. Auch die Höhenkaltluft sowie der starke Höhenwind wurden gut prognostiziert. Kaum bis gar nicht erfasst wurden dagegen die Entwicklung und der Verlauf der Gewitterlinie. Dennoch gaben die Meteorologen der Unwetterzentrale am Donnerstagabend für die Beneluxstaaten und den gesamten Nordwesten Deutschlands Vorwarnungen vor Sturmböen aus. Am späten Freitagvormittag folgten Akutwarnungen mit dem Hinweis auf schwere Sturmböen:

„Am Freitagabend kommt vorübergehend frischer bis starker Süd- bis Südwestwind auf. In freien Lagen sind einzelne Sturmböen von 75 bis 80 km/h zu erwarten. Vor allem in Schauern oder Gewittern können vereinzelt auch schwere Sturmböen um 90 km/h auftreten.“

Zudem erfolgten Gewittervorwarnungen, als sich die Front noch über den Niederlanden und Belgien befand. Sobald absehbar war, dass auch orkanartige Böen auftreten können, gab es eine Sturmwarnung der Warnstufe Rot für den Bereich Niederrhein - Münsterland - Emsland.


Auswirkungen

Blitzeinschläge
Abb. 11: Blitzeinschläge zwischen Freitag, 3. Januar 2014, 19:30 und 20:30 Uhr MEZ (weiß = 0-10 Minuten alt, ..., lila = 50-60 Minuten alt). Zum Höhepunkt der Squall line-Entwicklung wurden in ihrem Bereich binnen 60 Minuten 2.257 Blitze registriert (Zeit zwischen 18:00 und 19:00 Uhr MEZ).

Die Squall line wirkte sich ähnlich aus wie Gewitterfronten, die wir aus dem Sommerhalbjahr kennen. Es fiel kurzzeitig verbreitet Starkregen und lokal wurde Hagel bis zu einer Größe von 4 Zentimetern gemeldet. Dies führte lokal zu der Ausbildung einer Hageldecke und stellenweise war es das erste Mal weiß im bislang milden Winter 2013/14. Einige Fahrbahnen wurden dadurch sehr glatt.

Es gab auch einige Blitzeinschläge, so setzte ein Blitz den höchsten Kirchturm der Stadt Essen in Brand. Im Neandertal wurden zwei Menschen verletzt, als ein vermutlich vom Blitz getroffener Baum auf den PKW stürzte. Die stärksten Auswirkungen gab es aber durch den Sturm. Vielerorts traten schwere Gewitterböen auf. In Erkelenz (NRW) starb eine Frau, die von einer umstürzenden Mauer getroffen wurde.

Solch heftige Gewitterböen entstehen, wenn im Bereich eines Schauers/Gewitters mit dem Niederschlag (Regen, Hagel) Kaltluft nach unten stürzt und sich am Boden rasch ausbreitet. Man nennt diesen Vorgang auch Downburst oder Gewitterfallböe. Durch solche Downbursts stürzten in vielen Regionen zahlreiche Bäume um und Dächer wurden teilweise abgedeckt.

Foto
Abb. 12: Schäden bei Löningen im Oldenburger Münsterland, Foto von Thomas Oevermann

Ein weiteres Phänomen im Bereich solcher Gewitterfronten sind Tornados, die eng begrenzt zusätzlich enorme Schäden anrichten können. Da sie mit den Gewittern sehr schnell ziehen, sieht das Schadenbild auf den ersten Blick ähnlich aus wie nach einer Gewitterfallböe und Tornados in solchen Winterstürmen sind nur schwer verifizierbar.


Tornados / Tornadoverdachtsfälle

Bisher sind zwei Tornados in Nordfrankreich und in den Niederlanden nahe der Grenze zum Emsland bestätigt. Aus Deutschland liegen eine bestätige Meldung zu einem Tornado in Remsfeld in Hessen und neun Tornadoverdachtsfälle vor, die noch weiter untersucht werden. In mehreren Fällen handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich um Tornados. Dies herauszufinden ist sehr schwierig.

Die Gewitterfront am Rande des Orkantiefs ANNE zog sehr schnell und mit ihr auch die kleinräumigen Unwetter von Gewitterböen bis hin zu Tornados. Schnell ziehende Tornados hinterlassen aber ein anderes Schadenbild als langsam ziehende. Ist ein Tornado nur langsam unterwegs, dann ergibt sich das typische Fallmuster von Bäumen in verschiedenen Richtungen, entsprechend der Drehbewegung des Wirbels.

Zieht er dagegen sehr schnell, dann addieren sich auf der rechten Seite der Zugbahn die Zug- und die Drehgeschwindigkeit, während sich auf der linken Seite der Zugbahn beide fast aufheben. Schäden treten also besonders auf der rechten Seite des Tornadozentrums auf. Gegen die Zugrichtung fallende Bäume sind die Ausnahme. Damit ähnelt das Schadenbild dem einer Gewitterfallböe, allerdings mit einigen kleinen Unterschieden.

Ein Tornado hinterlässt eine eng begrenzte und lang gezogene Schneise mit Schäden. Das Verhältnis Länge zu Breite der Schneise beträgt mindestens 10 : 1. Allerdings kann auch eine Gewitterfallböe sehr eng begrenzt sein und sich sehr lokal auswirken. Eine Fallböe bewirkt am Boden aber ein konvektives Muster, weil die herab fallende Luft hier auseinander strömt. Bei einem Tornado ist das Schadenmuster eher konvergent.

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Abb. 13: Enorme Verfrachtungen bei Löningen im Oldenburger Münsterland, Foto von Thomas Oevermann

Ein weiteres Indiz für einen Tornado sind enorme Verfrachtungen von Gegenständen, Baum- oder Dachteilen. In Löningen im Emsland wurden am Freitagabend Teile eines Daches bis zu 600 Meter weit verfrachtet. Ein Anwohner beschrieb die nur wenige Sekunden andauernde Geräuschkulisse zudem wie einen vorbeifahrenden Güterzug.

In Nordhessen kam zu den aufgetretenen Schäden noch die Aussage eines Augenzeugen, der im Lichtschein der Blitze einen Tornadoschlauch erkennen konnte. Mit solchen Beobachtungen und den Indizien lassen sich auch im Winterhalbjahr, in dem es die meiste Zeit außerdem dunkel ist, Tornados verifizieren. Dieser Teil der Verifikation wird gegebenenfalls noch ergänzt bzw. aktualisiert.


Fazit

Anders als die Herbstorkane CHRISTIAN und XAVER wirkte sich das Orkantief ANNE in Deutschland nicht direkt aus, es zog weit entfernt über den Atlantik und brachte Irland und Schottland Sturm und Orkan. Auch die zugehörige Okklusion zog ohne nennenswerte Auswirkungen über Deutschland hinweg. Dafür bildete sich in der sehr milden und feuchten Meeresluft am Boden eine durch labile Höhenkaltluft induzierte ausgeprägte und fast sommerlich anmutende Gewitterfront, die Nordfrankreich, Benelux und die Nordhälfte Deutschland überquerte. In ihrem Bereich gab es heftige Gewitterböen und Tornados, die erhebliche Schäden anrichteten.


Diese Zusammenstellung wurde von Thomas Sävert und Stefan Laps, Meteorologen der Unwetterzentrale, im Januar 2014 erstellt.

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