Orkantief YANQIU - 26., 27.10.2006 (Tief Nr. 6)
Wetterlage
Am 26.10. abends um 20 Uhr lag der Kern des Orkantiefs mit 972 hPa an der schottischen Nordseeküste. Die sehr engen Isobarenabstände über Schottland deuten auf das markante Orkanfeld hin. Bis zu diesem Termin erreichten die Spitzenwindböen auf einigen zu Schottland gehörigen Inseln wie z.B. auf North Rona Werte bis 156 km/h, in Lerwick 137 km/h, auf Sule Skerry 135 km/h und auf Foula 133 km/h. An der schottischen Küste selbst wurden beispielsweise in Wick bis zu 143 km/h gemessen. Im Binnenland registrierten die Messstationen zwischen 70 und 87 km/h. Durch den starken Druckgradienten und der Ostwärtsverlagerung des Kerns in Richtung Nordsee stieg der Luftdruck in Schottland mit meist 8 bis 15,5 hPa in 3 Stunden an. An dieser Stelle sei noch auf die Großwetterlage hingewiesen: Der langgestreckte Trog von Island bis zu den Kanaren führte vorderseitig zu massiver Warmluftadvektion von Afrika bis nach Mitteleuropa, die am Tage in einigen Städten Mitteleuropas zu Dekaden-Rekordtemperaturen führte.
In der Nacht zum 27.10. wanderte das Orkantief über die nördliche Nordsee hinweg und befand sich um 2 Uhr MESZ mit seinem Zentrum vor der norwegischen Küste. Der Kerndruck stieg bis dahin auf 980 hPa an. Bis zu diesem Termin wurden in Schottland noch bis ins Flachland hinein teils orkanartige Böen bis 107 km/h z.B. an der Station in Aberdeen gemessen. Der Luftdruck stieg in Schottland sogar mit maximal 18,1 hPa in 3 Stunden an (Messwert der Station in Kinloss). Da die Kaltluftzufuhr auf der Tiefrückseite vorübergehend nachließ, verlor das Tief vorübergehend an Intensität.
Bis zum Morgen des 27.10. um 8 Uhr MESZ erreichte der Druckgradient im äußersten Norden Deutschlands seinen mitteleuropäischen Höhepunkt. Das Tief überquerte in den vergangenen 6 Stunden rasch Südskandinavien nordostwärts und verstärkte sich dabei wieder: In seinem Zentrum wurde ein Luftdruck von 976 hPa gemessen. Die Modellkarte deutet einen Schwall kalter Luft an, der sich aus der Polarregion gen Süden erstreckt. Der Orkanwirbel zapfte diese Polarluft an und damit vergrößerte sich der Temperaturgradient zur vorderseitig gelegenen Warmluft erneut. Die nach Skandinavien advehierte hochreichende Kaltluft (-25 bis -30°C in 500 hPa) führte zu teils kräftigen Schneefällen. Die Spitzenböen bewegten sich an der norwegischen Küste bis zum Morgen meist zwischen 80 und 110 km/h. Die Station in Krakenes registrierte sogar eine Spitzenorkanbö von 144 km/h. Der Luftdruck stieg im Südwesten Norwegens zwischen 7 und 13,7 hPa in 3 Stunden an.
Durch die auf der Rückseite des Orkanwirbels einfließende Polarluft verstärkte sich das Tief bis zum Mittag noch weiter und der Kerndruck erreichte an der finnischen Ostseeküste einen Wert von 973 hPa. Vor allem in Dänemark und über der Ostsee wurden im Bereich des stärksten Druckgradienten Spitzenböen von 122 km/h z.B. in Roesnaes, Dänemark bzw. 128 km/h am Hiddenseer Dornbusch auf Rügen gemessen.
Ausführliche Analyse der Wetterlage
Am 22.10. zog ein Tief südlich an Neufundland vorbei und wanderte bis zum 23.10. durch das westliche Höhenströmungsfeld als "normales" Tiefdruckgebiet ohne nennenswerten Temperatur- und Druckgradienten mit einem Kerndruck zwischen 993 und 989 hPa ostwärts über den Altantik. Dabei verstärkte es sich zunächst kaum. Der Jet transportierte dagegen das Sturmtief XENIA (Tief Nr. 5) am gleichen Tag nordwestlich an Portugal vorbei bis zur französischen Westküste. In der Nacht zum 24.10. ging seine Kaltfront über Spanien in die Warmfront des neuen Tiefs über, das am selben Tag auf den Namen YANQIU getauft wurde. Das Strömungsmuster deutete darauf hin, dass auch der neue Wirbel als weiteres Sturmtief Teile Mitteleuropas mit seinen Ausläufern und seinem Starkwindfeld erfassen würde. Bis zum 25.10. wuchs YANQIU allmählich zu einem Sturmtief heran und erreichte, ähnlich wie sein Vorhänger XENIA, das Seegebiet nordwestlich der Iberischen Halbinsel. Bis zum Mittag wurde etwa westlich Islands der Weg für kühle Meeresluft frei, die sich strömungsparallel nach Süden auf den Atlantik ausdehnte. YANQIU zapfte diese Luftmasse an (ca. -20°C in 500 hPa bzw. ca. 4°C in 850 hPa) und musste sich zwangsläufig intensivieren, weil sich der Temperaturgradient im Vergleich zur Luftmasse auf seiner Vorderseite verschärfte (-10 bis -14°C in 500 hPa bzw. 10 bis 18°C in 850 hPa). Der Kern vertiefte sich auf 980 hPa. Von XENIA blieb an diesem Tag nur noch ein alterndes nordosteuropäisches Tiefdruckgebiet übrig und über Mitteleuropa wirkte sich vorübergehend Zwischenhocheinfluss wetterberuhigend aus.
Die o.e. kühle Luft kam sogar soweit nach Süden voran, dass sich nordwestlich der Iberischen Halbinsel am Abend ein neuer Tiefkern bildete, während YANQIU mit der Höhenströmung gen Nordwesten zog und Irland erreichte. Im Bodendruckprofil war nun ein umfangreiches Tiefdrucksystem über dem Ostatlantik zu erkennen und es stellte sich eine interessante Großwetterlage ein: Ein umfangreicher Höhentrog erstreckte sich von Island knapp westlich an Irland vorbei bis zu den Kanarischen Inseln. Vorderseitig wirkte sich massive Geopotentialzunahme (WLA) aus südlichen Gefilden auf Mitteleuropa aus; im Alpenraum stellte sich Föhn ein. Lesen Sie hierzu bitte im Abschnitt "Vorhersage" etwas weiter unten nähere Informationen.
In der Nacht zum 26.10. überquerte die Warmfront des Sturmtiefs den Norden Deutschlands mit Landregen, der jedoch nicht unsere Warnschwellen erreichte. Dahinter wurde ungewöhnlich warme Luft subtropischen Ursprungs in breitem Strom von Afrika über das Mittelmeer bis nach Mitteleuropa geführt. Dabei wurde sogar ein Schwall feinen Saharastaubes bzw. -sandes mit der Höhenströmung nach Mitteleuropa transportiert. Es stellte sich eine kräftige südöstliche bis südliche Strömung ein, die im Bereich einiger Mittelgebirge zu markanten Föhneffekten führte: In Ilsenburg im Harz wurden beispielsweise schon in den Frühstunden Temperaturen von 20°C gemessen und in Wernigerode - ebenfalls im Harz - registrierte die Wetterstation eine Spitzenbö von 76 km/h auf 234 Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Tagsüber erreichten die Temperaturen im Warmsektor des Tiefs in der 850 hPa-Fläche Werte von verbreitet 13 bis 16°C, im Süden durch Föhnunterstützung sogar 16 bis 19°C. Im Hochsommer wären bei vergleichbarer Ausgangslage und Sonnenschein hochsommerliche Temperaturen von 30 bis 36°C die Folge gewesen. Jahreszeitlich bedingt konnte es natürlich nicht derart heiß, aber dennoch sehr warm bzw. ungewöhnlich warm werden, wie die folgende Tabelle veranschaulicht:
Messwerte: Höchsttemperaturen vom 26.10. (Auswahl)
Quellen der Daten: Messnetz MeteoGroup, DWD, Auswahl
- 28,7°C - Balzers (Fl) (Liechtenstein), Alpenföhn
- 28,6°C - Emmendingen-Mundingen
- 28,5°C - Vaduz (Fl) (Liechtenstein), Alpenföhn
- 27,8°C - Heitersheim
- 27,7°C - Ihringen
- 27,6°C - Freiburg-Ebnet
- 27,1°C - Neuenburg am Rhein; Hofstettermatte (CH)
- 26,9°C - Breisbach am Rhein
- 26,3°C - Pforzheim
- 26,2°C - Triberg-Zentrum
- 26,0°C - Europapark Rust
- 25,9°C - Garmisch-Partenkirchen (Alpenföhn)
- 25,8°C - Neukirchen/Erzgebirge, Erzgebirgsföhn
- 25,7°C - Weimar, Thüringer Wald-Föhn
- 25,3°C - Wasserauen (Al) (CH)
- 25,2°C - Hatzenport/Mosel, Hunsrückföhn
- 25,1°C - Mücheln (Geiseltal)
- 25,0°C - Grevenbroich
Durch die massive WLA vorderseitig des Tiefs (-11 bis -15°C in 500 hPa bzw. 10 bis 19°C in 850 hPa) und der bedeutend kühleren Luft, die von Nordwesteuropa auf die Rückseite des Tiefs gelangte (-23 bis -28°C in 500 hPa bzw. 0 bis -2°C in 850 hPa), war ein idealer Temperaturgradient geschaffen, so dass sich das Tief am Tage auf seinem Weg über Großbritannien hinweg nach Schottland zu einem Orkantief entwickeln konnte. In Schottland wirkte sich dabei der stärkste Druckgradient aus, wie die Wetterkarten links demonstrieren. Mittags um 14 Uhr MESZ vertiefte sich der Kern des Orkantiefs an der schottischen Nordwestküste auf 973 hPa. Bis zum Abend wurden auf einigen Inselgruppen nördlich Schottlands wie z.B. auf North Rona, auf den Shetland und Orkney Islands Orkanböen jenseits von 120 km/h gemessen. - Mehr über Spitzenböen erfahren Sie links unter den jeweiligen Modellkarten. - Durch die Verlagerung des Kerns gen Osten in Richtung nördliche Nordsee verzeichneten einige Stationen in Schottland auf der Tiefrückseite markante Druckanstiege von bis zu 18,1 hPa in 3 Stunden. Zeitgleich überquerte die Kaltfront des Tiefs den Norden Deutschlands mit einem schmalen Band schauerartig verstärkten Regens. In Teilen Schleswig-Holsteins wurden dabei vorübergehend Warnungen für Starkregenschauer nötig. Laut einer Niederschlagssummenkarte von MeteoGroup kamen stellenweise 10 bis 20 l/m² zusammen. Im übrigen Land herrschte dagegen durchweg ruhiges Wetter.
Postfrontal erreichte das Hauptwindfeld den Nordwesten Deutschlands in der Nacht zum 27.10.. Besonders betroffen war zunächst die Nordseeküste mit schweren Sturm- und orkanartigen Böen. Zum Morgen hin wurde dann auch die Ostseeküste bzw. das Binnenland vom Sturmfeld beeinflusst und das Orkantief lag mit seinem Zentrum über der Ostsee. Etwa auf einer Linie Borkum - Wilhelmshaven - Hamburg - Uelzen - Angermünde und nördlich davon traten warnrelevante Windböen bis ins Tiefland auf.
Zum Mittag wanderte das Tief zur Ostsee weiter und der Druckgradient nahm von Westen her deutlich ab. Lediglich der Nordosten Deutschlands wurde noch bis zum Abend vom Sturmfeld tangiert. Die Kaltfront legte sich darüber hinaus über die Mitte Deutschlands und trennte die subtropische Warmluft im Süden (9 bis 14°C im 850 hPa-Niveau) von kühlerer Luft im Norden (6 bis 2°C in 850 hPa), die auf der Rückseite des Orkantiefs heranströmte. Im Bereich des Tiefausläufers bildeten sich örtlich einzelne kräftigere Schauer; die UWZ-Warnschwellen erreichten diese jedoch nicht.
NOAA-Satellitenbild
Das sichtbare NOAA 18-Satellitenbild vom Mittag des 26.10. um 14:57 Uhr MESZ zeigt den Orkanwirbel mit seinem Mittelpunkt über Schottland. Von ihm ausgehend erstreckt sich ein Wolkenband von der Nordsee über den Ärmelkanal und Frankreich bis hinunter nach Afrika, das die warme Luft subtropischen Ursprungs auf seiner Vorderseite von kühler Meeresluft auf seiner Rückseite trennt. Im Satellitenbild sind ein paar 15 Uhr MESZ-Messwerte von Wetterstationen nationaler und internationaler Wetterdienste Europas eingetragen. Sie veranschaulichen, wie sehr sich die warme Luft in dieser fortgeschrittenen Jahreszeit in Mittel- und Südeuropa bemerkbar machte. Die farbigen Pfeile signalisieren in etwa den Höhenströmungsverlauf und den Transport der unterschiedlichen Luftpakete.
Infrarot-Satellitenbild
Am 27.10. nachts um 2 Uhr MESZ liegt der Wirbel mit seinem Zentrum an norwegischen Südwestküste. An der deutschen Nordseeküste werden zu der Zeit auf Helgoland und Sylt erstmals orkanartige Böen von über 104 km/h gemessen.
Warnkarte der MeteoGroup Unwetterzentrale
Am Abend des 26.10. gaben die Meteorologen der Unwetterzentrale ca. 6 bis 12 Stunden vor Ereignisbeginn Akutwarnungen für Norddeutschland heraus. Sie haben wie folgt gewarnt: Sylt und Brocken 120 km/h und darüber, Helgoland 115 km/h und darüber, ostfriesische Inseln 90 km/h und darüber, Ostseeküste 100 km/h und darüber, Rügen bis 120 km/h. Die übrigen Flachland-Akutwarnungen wurden von Nord nach Süd gestaffelt: im Norden Schleswig-Holsteins 90 bis 100 km/h, weiter nach Süden 80 bis 90 km/h. Im noch vorgewarnten Gelbstreifen gab es noch den Unsicherheitsfaktor, ob hier überhaupt warnrelevante Böen auftreten würden. Am Morgen des 27.10. wurden etwa von der Lüneburger Heide bis vor den Toren Berlins weitere Akutwarnungen für Sturm mit Böen um 80 km/h herausgegeben. Weiter nach Süden zu waren sich die MeteoGroup-Meteorologen einig, dass sich keine Sturmböen mehr auswirken würden.
Spitzenböen (ab 104 km/h) - 25.10. 00 Uhr bis 27.10. 23 Uhr
Quellen der Daten: Messnetze MeteoGroup, DWD, Auswahl
- 133 km/h - Ebenalp (CH, Föhn)
- 128 km/h - Hiddensee-Dornbusch
- 126 km/h - Brocken
- 117 km/h - List/Sylt-Ellenbogen
- 113 km/h - Helgoland-Oberland
- 111 km/h - Hörnum/Sylt
- 107 km/h - Kap Arkona/Rügen, List/Sylt, Pellworm
- 104 km/h - Amrum, Fichtelberg, Helgoland-Südhafen; Zugspitze (Föhn)
Diese Analyse wurde von Manfred Spatzierer und Stefan Laps, Meteorologen der Unwetterzentralen Deutschland und Österreich, im Oktober 2006 erstellt.
ANZEIGE